Zu Besuch bei Mario Vargas Llosa in Lima. Im Jahr 1985. Foto: Norbert Böer.

Mario Vargas Llosa traf ich das erste Mal Anfang der 1980er Jahre in Lima. Kurz zuvor waren acht Journalisten in dem Andennest Uchuraccay von Indios zu Tode gesteinigt worden. Es waren jene Tage, in denen man sich auf der Strasse zum ersten Mal den Namen Sendero Luminoso zuraunte, und der blutige Terror dieser maoistischen Guerrilla sollte in den nächsten zehn Jahren den Alltag der Peruaner aus den Fugen bringen.

Der integere, aber schon etwas senile Präsident Fernando Belaúnde Terry muss eine aufgewühlte Öffentlichkeit beruhigen und beruft eine Kommission, die den Unmut im Ausland und in einheimischen Intellektuellenkreisen dämpfen soll. Wer nun könnte als Vorsitzenden dieser Kommission glaubhaft sein? Belaúndes Wahl fällt auf einen Schriftsteller, der sich schon damals weit über die Grenzen seiner Heimat Respekt und Renommee erworben hat. Und so wird der damals Mittvierziger Mario Vargas Llosa Vorsitzender der dreiköpfigen Untersuchungskommission, die den düsteren Fall aufhellen soll.

Eine Person wie Mario Vargas Llosa würden die Franzosen als einen homme d’esprit bezeichnen. Dieser Mann von Geist hat zwei, drei ganz außergewöhnliche Romane veröffentlicht, dieser Mensch kann jede Woche einen meist fabelhaften Essay zu Papier bringen und sprachlich brillant und druckreif aus dem Stehgreif eine Rede halten. Vargas Llosa ist ein virtuoser Sprachtechniker, wie sich nur wenige in der modernen Weltliteratur finden lassen, er ist ein opulenter Imaginist – und ein sympathischer Bursche obendrein. 

Geboren wird Mario Vargas Llosa 1936 in Arequipa, dem bedeutenden Zentrum im Süden Perus. Arequipa hinterlässt beim Besucher den Eindruck einer hübschen Stadt, deren 800.000 Einwohner von einer phantastischen Berglandschaft umgeben sind. Perus weiße Stadt wird Arequipa genannt, weil viele ihrer Strassen und Wege mit weißem Vulkanstein gepflastert sind. Der schneebedeckte Gipfel des Vulkans El Misti überstrahlt die Stadt, die weitgehend ihre pittoreske koloniale Architektur erhalten konnte. 

Kann ein guter Schriftsteller da ob der schwierigen Wirklichkeit seines Landes neutral bleiben, darf er lediglich beschreiben oder muss er vielmehr nicht all diese Zerrissenheit auch einem Werturteil unterziehen? Natürlich legt eine aufrichtige und authentische Literatur nicht nur Zeugnis ab, sondern bezieht zugleich auch Standpunkt. Sie zeigt eine wie auch immer geartete Perspektive auf, und dies schließt schon eine Art Werturteil ein. Jede wahrhafte Literatur besitzt letztlich – so glaube ich – eine kritische Funktion. Sie legt ein Problem offen, beschreibt eine Unzufriedenheit, eine Leere oder eine Unzulänglichkeit der Wirklichkeit.

Am Malecón Paul Harris wohnt Vargas Llosa in einer gigantischen weißen Villa mit Blick auf den Pazifik. Dort auf der Anhöhe über der Brandung des Meeres in Limas Stadtteil Barranco sind Mario Vargas Llosa und seine liebenswürdige Frau Patricia allerdings nur noch selten anzutreffen. Er, der treffsichere Chronist Perus, hat seinen Lebensmittelpunkt in Madrid. Neue Stadt, neue Frau. Die Opposition zu dem Regime des autokratischen Präsidenten Alberto Fujimori und Todesdrohungen der Terroristen des Sendero Luminoso haben ihn und seine Familie bereits Anfang der 1990er Jahre nach Europa getrieben. Seit 1993 besitzt der Schriftsteller zusätzlich die spanische Staatsbürgerschaft.

Wie viele Autoren denn in einem Land wie Peru vom Schreiben leben könnten, will ich wissen. Nun, kaum einer, antwortet Mario Vargas Llosa betrübt. Die meisten üben andere Brotberufe aus, sind Journalisten oder Lehrer. Doch selbst ein Lehrer oder Arzt fristet mit einem Monatslohn von gerade einmal zwei- oder dreihundert Dollar ein kümmerliches Dasein. Das Land hat nie großen Wert auf eine vernünftige Ausbildung seiner Bürger gelegt, Perus Schulen und Universitäten leiden an schlechter Ausstattung und besitzen einen schlechten Ruf. Wer die Mittel besitzt, schickt seine Kinder auf Privatschulen oder zum Studium in die USA oder nach Europa.

Trotz aller Preise und Auszeichnungen liegt auf dem schriftstellerischen Glanz von MVLL, wie er in Peru abgekürzt genannt wird, ein zarter Schatten. Denn bereits mit 30 Lenzen – der Kalender zeigt das Jahr 1966 – hat der Peruaner sein Opus magnum veröffentlicht. Das grüne Haus ist ein virtuos verschachtelter Roman in Zeit und Raum und gehört wohl zu den 20 sprachstärksten Werken des 20. Jahrhunderts. Das grüne Haus – allerlei Geschichten um ein Bordell in der Wüstenstadt Piura im Norden Perus – versteht sich als metaphorische Annäherung an das ganze Land. Es stellt die laszive Lebensfreude seiner Bewohner dar, lässt aber auch die schreckliche Gewalt im Alltag erahnen.

Alles was nach dem grünen Haus kam, war – kein Zweifel – nett bis obernett. Aber weder die Tante Julia noch Lob der Stiefmutter oder sein letztes Werk Das böse Mädchen aus dem Jahr 2006 konnten sich der sprachliche Genialität des grünen Hauses nähern. Einzig Gespräch in der Kathedrale und sein spätes Kunstwerk Das Fest des Ziegenbocks vermögen dem Meisterstück La casa verde in Ansätzen das Wasser reichen. 

Tollkühn hat sich Mario Vargas Llosa im Jahre 1990 in ein Abenteuer gestürzt, das so bunt und wild war, als sei es einem seiner Romane entsprungen. Allseits respektiert und als haushoher Favorit gestartet, bewarb er sich in jenem Jahr um das Präsidentenamt seines vom sozialistischen Populisten Alan García gründlich ins Elend herunter gewirtschafteten Landes. Vargas Llosa verlor sensationell und er verlor sensationell hoch gegen einen Señor-San, gegen einen Nobody, gegen einen bis dahin gänzlich unbekannten peruanischen Agraringenieur japanischer Abstammung.

Dieser vom Volke liebevoll der Chinese genannte Dozent mit Namen Alberto Fujimori schaffte es in seiner elfjährigen Amtszeit, das Land makroökonomisch zu stabilisieren und auch den Anführer der Sendero Luminoso-Terroristen, den irren Philosophie-Professor Abimael Gúzman, hinter Schloss und Gitter zu bringen. Gleichzeitig überzog Fujimori die Andenrepublik in der dämonischen Gestalt des faktischen Geheimdienstchefs Vladimiro Montesinos mit einem feinen Netz von Korruption und Autokratie. Und als die Knoten dieses Spinnennetzes im November 2000 rissen, da schickte el Chino, der sich auf einer Auslandsreise in Asien befand, aus Tokio seinem Land Peru ein mageres Fax: Er trete als Präsident zurück. Nach seiner Auslieferung kam er dann für viele Jahre hinter peruanische Gitter.

Es hat Vargas Llosa damals hart getroffen, dass nicht er, der brillanteste Sohn der Nation, diese Wahl gewonnen hat. Doch die Indios und Besitzlosen, die Mehrheit der Wähler also, haben ihn einer knappen und harschen Beurteilung unterzogen: zu weiß, zu reich, zu europäisch. Der Japaner Fujimori mit seinem kauzigen Auftreten und dem schlechten Spanisch schien da eher einer der ihren. Für die Intellektuellenwelt freilich bleibt es ein Segen, dass Vargas Llosa die Präsidentenwahl 1990 mit Pauken und Trompeten verloren hat. Sonst hätten die Peruaner einen vorzüglichen Schriftsteller weniger und einen lausigen Präsidenten mehr gehabt.

Als Mario Vargas Llosa 1967 den angesehenen Rómulo Gallegos-Literaturpreis entgegennahm, da haben viele seine damalige Dankesrede als flammende Lobrede auf Fidel Castros kubanischen Umsturz und sonstige Revolutionäre auf dem Halbkontinent verstanden. Ob er im Laufe der Jahre seine Ansichten geändert habe? Sehe er die Welt heute in einem anderen Licht? Sicher, ich habe einige Ansichten korrigiert. Aber mehr auf politischem Gebiet. Meine Ansicht über Literatur und literarisches Arbeiten haben sich nicht grundlegend geändert. Politisch gab es eine Zeit, wo ich der marxistischen Analyse sehr nahe stand. Ich glaubte damals an eine Revolution, an eine gewaltsame Änderung der Strukturen in den unterentwickelten Ländern, um unsere Probleme zu lösen. Nach und nach reifte jedoch die Einsicht von der Ungerechtigkeit des Marxismus.

Die Schwedische Akademie der Schönen Künste lässt ihn zappeln. Bis zum Jahr 2010. Da hat er ihn bekommen, lang ersehnt, den Nobelpreis für Literatur. Zu spät, möchte man klagen, leider viel zu spät. Zwischenzeitlich hat der magische Realismus des lateinamerikanischen Romans viel an Glanz verloren. Der artifizielle Stil eines Vargas Llosa brummelt bei seinen letzten Erzählungen zwar brav, aber doch ziemlich altväterlich vor sich hin. Der Wechsel der verschiedenen Erzählebenen, die Technik der inneren Monologe, das Verschachteln der Handlungsstränge – das sind Erzähltechniken, die anno 1975 elektrisierten. Deshalb mag man das Gefühl nicht ablegen, dieser Nobelpreis komme verspätet, in einem betrüblichen Sinne doch sehr hinausgezögert. Aber verdient, so möchte man schnell hinzufügen, verdient ist er allemal gewesen.

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